Reinhard Slenczka (1931-2022) zum Gedenken

Am 4. November 2022 starb Reinhard Slenczka, einer der herausragenden evangelisch-lutherischen Theologen der Gegenwart, im 92. Lebensjahr in seiner Altersresidenz in Würzburg. Nur vier Wochen zuvor war er mit seiner Gattin und Lebensbegleiterin, Dr. Gisela Slenczka, mit der er seit 1957 verheiratet war, in die Domstadt umgezogen.

Slenczka hatte zu verschiedensten Bekenntniskreisen intensive Beziehungen und war stets bereit sein enzyklopädisches Wissen in Vorträgen, Artikeln und Gutachten zu teilen. Auch zur STH Basel hatte er eine intensive geistliche und geistige Beziehung. Im Februar 2015 hielt er zur ersten Akkreditierung den Festvortrag: biblisches Glaubensfundament im reformatorischen Sinn und ein hoher wissenschaftlicher systematischer Anspruch verbanden sich bei Slenczka zu einer untrennbaren Einheit. Darin trat er das Erbe weniger von Wilfried Joest und vielmehr von Walter Künneth an, dem Kenner der Weltanschauungen, der schon 1933 Hitlers Ideologie entschieden widersprochen hatte.

Slenczka war ein umfassend gebildeter und zugleicht tief frommer Theologe und Philosoph.  Der Sohn eines Kasseler Pfarrers und Dekans studierte zwischen 1951 und 1956 neben Theologie in Marburg, Tübingen, Heidelberg und Paris auch Slavistik und Philosophie. In Heidelberg fand er seinen Lehrer und Mentor in dem Systematischen Theologen Edmund Schlink. Der junge Slavist und Theologe übersetzte früh Bücher aus dem Russischen und begleitete Schlink zu den frühen Tagungen mit der russischen Orthodoxie nach Moskau. Diese souveräne Einstellung des Lutheraners zum Russischen und zu den slawischen Sprachen blieb ein Grundton durch die Jahrzehnte. Slenczka war auch in späteren Jahren noch eine eminente Sprachbegabung gegeben: Mit Ende sechzig lernte er für seinen Dienst als Rektor der Luther-Akademie in Riga Lettisch und brachte es auch damit zu einer hohen sprachlichen Souveränität. Bei dem Begräbnis am 17. 11. 22 in Würzburg formulierte ein Vertreter des lettischen Bischofs, Slenczka sei ein bedeutender deutscher Theologe gewesen, noch bedeutender sei er als lettischer Theologe.

Ich erinnere mich gut, wie er vor etwa 10 Jahren in der KSBB-Zentrale mit Bischof Obare (Kenia), Vertretern skandinavischer Bekenntnisgruppen und einem Vertreter des Außenamtes der Russisch Orthodoxen Kirche zusammentraf und sich in der Teepause sofort angeregt mit den orthodoxen Priester in russischer Sprache unterhielt. Auch hier gab es schon ist eine reformatorische Tradition. Melanchthon suchte nach einem auf Schrift und Bekenntnis begründeten Großen Konsens mit den Ostkirchen. 

Das Vikariat absolvierte Slenczka in der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. 1960 wurde er bei Edmund Schlink mit einer Arbeit über „Die Einheit der Kirche als dogmatisches Problem in der neueren ostkirchlichen Theologie“ promoviert. Von dieser Promotionsschrift her war Slenczka zeitlebens ein leidenschaftlicher Ökumeniker, der die Gesamtkirche nicht zur Relativierung der einen Wahrheit nutzte, sondern zu ihrer Vertiefung und perspektivischen Beleuchtung. Die Habilitation folgte sechs Jahre später an der Universität Heidelberg mit einem christologischen Thema, das auch die neutestamentliche Exegese miteinschloss und Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi untersuchte. Dies war eine bis heute Maßstäbe setzende Untersuchung in der Hoch-Zeit der Bultmann-Schule.  Die erste Professur hatte Slenczka an der Universität Bern inne. 1970 bis 1981 lehrte er als Ordinarius und Nachfolger von Edmund Schlink an der Universität Heidelberg. Dort hatte er auch die Leitung des ostkirchlichen Seminars inne und erfüllte alle weitgefächerten Aufgaben seines akademischen Lehrers.

1981 wechselte er als Nachfolger von Wilfried Joest an die theologische Universität Erlangen-Nürnberg, auf einen Lehrstuhl, der Systematische Theologie und Apologetik verband. Damit weitete sich das Lehrgebiet noch einmal in den Bereich von Apologetik, die er sowohl gegenüber dem Marxismus als auch der atheistischen Ideologien umsichtig und argumentationsstark wahrnahm. Auch die Grundlagenvorlesung zur Geschichte der Philosophie, zweisemestrig vierstündig, nahm Slenczka kenntnisreich und umsichtig wahr. Bei ihm war zu lernen, dass Theologie in einem zwei Jahrtausende langen Gespräch mit  der Philosophie stand. Seine Haupt- und Oberseminare widmete er regelmäßig den Grundfragen der Theologie: Gottesbeweisen, Schriftprinzip und Schriftgebrauch oder dem Verhältnis von Kirche und Israel. In den frühen neunziger Jahren nahm er einen Forschungsaufenthalt in Jerusalem wahr. 1996 wurde Slenczka emeritiert.

Sein Engagement galt immer in besonderem Maß den Studenten im Martin-Luther-Bund. Die geistliche Begleitung, eine Theologie, die sich von Gebet und Wort Gottes führen ließ, waren für Slenczka charakteristisch. Er hielt noch vierstündige umfassende Vorlesungen zu Dogmatik und Ethik und zur Geschichte der Theologie. Die Vorlesungen eröffnete Slenczka mit der Lesung aus den Losungen und dem Gebet. Damit war der Rahmen der Theologie abgesteckt: Gebet (oratio), Versuchung (tentatio) und Meditation des Heiligen Textes stecken den Rahmen vor.

Slenczka diktierte die Leitsätze seiner Vorlesungen. Auf sprachliches und exegetisches Niveau legte der Systematiker großen Wert. Er schenkte seinen Studenten nichts, war aber ein sehr fairer Lehrer und Prüfer, der Leistung, nicht Gesinnung, prämierte.

Seine Geradlinigkeit und sein Mut beeindruckten. Ich erinnere mich an einen Streik im Wintersemester 1988/89, als Slenczka von seinem Hausrecht Gebrauch machte und nüchtern und fröhlich die Vorlesung hielt.

Unvollständig wäre das intellektuelle Bild, wenn man nicht den Zusammenhang von Rechtswissenschaft und Theologie, aber auch die formale Logik und Philosophiegeschichte mit bedenken würde: Die Verantwortung vor Gott und den Menschen war Programm.

Die Emeritierungsvorlesung widmete Slenczka den letzten Dingen, der Eschatologie. Und dann brach er noch einmal neu auf und wurde Gründungsrektor der Luther-Akademie in Riga in Lettland, wo die Kirche sich von der kommunistisch unterwanderten Universitätstheologie getrennt hatte. Die weiten Reisen legte Slenczka meist, gemeinsam mit seiner Gattin, mit dem Auto oder der Bahn auf dem Landweg zurück. Gleich nach dem Niedergang der Sowjetunion suchte er wieder Russland auf und führte viele Gespräche über ideologische Grenzen hinweg. Es war bewundernswert, wie er die weiten Wege zurücklegte und stets fundierten Rat gab.

Slenczka war ein Meister der Unterscheidung der Geister, dem Temperament nach näher bei Melanchthon als bei Luther, der Entschiedenheit und Schriftgemäßheit nach ganz Lutheraner.

Vom Temperament und Habitus her mag Slenczka Melanchthon nähergestanden sein als Luther. Im Bekenntnis war er ein kraftvoller Lutheraner im besten Sinn des Wortes. Wenn man sein Aufsatzwerk ‚Altes und Neues‘ heute durchsieht, so erkennt man einen umfassenden Bogenschlag. Slenczkas Abhandlungen reichen von dogmatisch-historischen Grundlagentexten über zentrale Topoi oder Loci wie die Zwei-Personen-Lehre und die Trinität zurück zur Methodologie der Dogmatik: Dabei ist seine Grundeinsicht unüberholbar, dass das Wort Gottes und der Magnus Consensus der Dogmenentwicklung der ersten eintausend Jahren der Christentumsgeschichte die Grundnorm der Theologie ausmacht. Die Theologie hat sich an diesem Fundament zu messen und zu orientieren. Vor allem aber an der Bibel, als wahrem Wort Gottes. Auch der Zeitlosigkeit der orthodoxen Ikonenkunst, die es als Gottesdienst verstand, die Ikonen als Manifestierungen von Jesus Christus im Fleisch zu „schreiben“, war Slenczka nahe.

Er war ganz Lutheraner und ganz der Wahrheit verpflichtet. Die großen Glaubenszeugen waren seine Gesprächspartner. Künstliche Aktualisierungen benötigte er nicht.

Auf diesem Jahrhundertfundament aufruhend, konnte Slenczka die Geister unterscheiden. Er verstrickte sich in keinen Zeitgeist und konnte doch höchst aktuell die Geister unterscheiden: In Gutachten und Gemeindevorträgen sprach er unter anderem höchst kenntnisreich von dem Subjektwechsel, der eintritt, Weltanschauungen die biblische und metaphysische Wahrheit überlagern. So äußerte er sich in den siebziger und achtziger Jahren gegen den Zeitgeist zur Nachrüstung, in den neunziger Jahren thematisierte er die Frauenordination kritisch und substantiell. 

Eine jüngere und jüngste Theologengeneration auf sein Werk hinzuweisen, bedeutet, sie vom Aktualismus und dem Temporalitätsprinzip auf die ewige metaphysische Wahrheit des Wortes Gottes hinzuweisen. Slenczkas Denken reicht weit über seine Zeit hinaus in eine Zukunft, die wieder zu fragen wagt. Seelsorgerliche und emotionale Wirklichkeiten dürfen die Wahrheit nicht überlagern.

Ich erinnere mich in großer Dankbarkeit an diesen Lehrer, der mich in glücklichen Jugendjahren inspiriert hat und ein Vorbild war und geblieben ist, im Glauben und im Denken und dem auch unsere KSBB sehr viel zu verdanken hat.

In einer Zeit, in der Briefe mit der Post transportiert wurden, beantwortete Slenczka jede Anfrage umsichtig und sorgfältig, Er betreute und gab Ratschläge, die oftmals ganz nüchtern wirkten, langfristig aber Weichen fürs Leben stellten.

Slenczka war ein großer Theologe, ein letzter in der Reihe der Erlanger Meister der Theologie. Wie kein anderer verband er das festgegründete Fundament mit der Offenheit und Neugier des Forschers. Erkenntnistheorie und die Frage nach der unvergänglichen, bleibenden Wahrheit leiteten Reinhard Slenczkas Denken. Denn aufgehoben ist alles menschliche Forschen in der ewigen Wahrheit Gottes.

Slenczka und seine Familie sind musikalische Ausnahmebegabungen. In der großen Kirchenmusik kann der Schleier der Meinungen und Ideologien durchdrungen werden. Slenczka war ein großer Kenner der Liturgie, doch trat er selbst als Liturg in den Hintergrund und wies auf Jesus Christus selbst hin, der den Tod überwunden hat, ein für alle Mal. Die leibhafte Auferstehung von den Toten ist der Grund unserer Hoffnung, das „offenbar gewordene Geheimnis“, das im Leben und Sterben trägt.  

Mit Reinhard Slenczka ist einer der letzten großen Kirchenlehrer des deutschen und europäischen Luthertums heimgerufen worden. Gott sei ihm gnädig und lasse ihn schauen, was er geglaubt hat.  

                                                                                                                      Harald Seubert